Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern gibt es wieder diese Grafiken, in denen Wählerwanderungen dargestellt werden. Aussage: so-und-so viele Tausend Wähler der Partei XY haben nun Partei YZ gewählt. Besonders stark geteilt wird die Wählerwanderung zur AfD, und darauf basierend Schuldzuweisungen aller Art gemacht. Das ist aus mehreren Gründen falsch.
Relative statt absolute Zahlen
Wäre es einerseits nicht viel interessanter, wie viel Prozent der ehemaligen Wähler einer Partei nun die AfD wählen? Wenn man das mal ausrechnet, kommt man plötzlich auf eine ganz andere Aussage.
Folgender Beitrag wird zur Zeit gerne geteilt:
Die intuitiv interpretierte Aussage daraus ist: die Nichtwähler sind schuld, die Grünen unschuldig. Denn natürlich vergleicht man intuitiv die absoluten Zahlen. Das ergibt dann automatisch ein solches Diagramm:
Berechnet man dagegen den prozentualen Teil der Wähler, welche von Partei XY zur AfD gewandert sind, sieht die Grafik plötzlich ganz anders aus:
Aus meiner Sicht ist die relative Darstellung erheblich aussagekräftiger. Bei einer kleinen Partei KÖNNEN ja nur kleine Mengen Wähler wandern, aber trotzdem kann das ein elementarer Teil der Wähler dieser Partei sein, trotz der kleinen absoluten Zahlen. Die Frage wäre also: warum um alles in der Welt werden permanent absolute Zahlen verglichen und dann auch als Argumentationsgrundlage verwendet?
Statistische Fehler
Dazu kommt: die Unsicherheit ist riesig. Alleine schon die Rundung auf gerade Tausender bedeutet, dass v.a. bei kleinen Parteien die Zahlen extrem ungenau werden. Die 3000 Wanderer der Grünen bedeuten durch die Rundung „irgendwas zwischen 2500 und 3500 Personen wanderten“. Lies: zwischen 4,24 und 5,93 % sind gewandert – und das ist nur die Unsicherheit der Rundung.
Hinzu kommt zudem noch die Unsicherheit der Umfrage. Diese ist bei kleinen Parteien wirkt sich bei kleinen Parteien ebenfalls stark aus. Leider gibt die ARD keine statistische Messunsicherheit bei ihren Zahlen an, aber das lässt sich gut nachrechnen. Die Mathematik dahinter erklärt die Seite wahlrecht.de.
Um einen Eindruck zu geben: Würde man die Wahl über eine Umfrage von Personen bestimmen, so hätte man bei den Grünen einen statistischen Fehler von +/- 1,78 %. Das sind absolut +/- 15.063 Wähler. Wie präzise darin dann +/- 3.000 wandernde Wähler wiederzufinden sind, kann man sich dann denken.
Andere Rechnung: 3.000 Personen bedeutet bei 1,37 Millionen Wahlberechtigten, dass bei einer Umfrage von 1000 Personen 2,18 Personen behauptet haben, dass sie von Grünen zu AfD gewechselt sind. Hätte bei dem zufällig ausgewählten Kreis eine Person mehr behauptet, sie sei Grün-AfD-Wechsler, so stünde da dann plötzlich 4110=> gerundet 4000 Wechsler. Hätte dies nur eine Person behauptet, wären wir bei 1370 => gerundet 1000 Wechslern. Kurzum: die Aussage von 3000 Grüne-zu-AfD-Wechslern ist nur eine sehr, sehr, sehr grobe Aussage, und darauf basierte Rechnungen und Schuldzuweisungen dürften in den meisten Fällen ziemlicher Unsinn sein.
Das heisst übrigens nicht, dass alle Umfragen kompletter Blödsinn sind. Wozu ich auffordere ist, dass man sich die Umfragen genauer anschaut und sich dann überlegt, welche Aussagen sich daraus herleiten lassen, und welche eben nicht.
Die Frage ist eine andere
Abseits all der Mathematik: das Problem ist doch ein ganz anderes. Ich empfinde die Diskussion in den Kommentarspalten als absurd. Da werden die alten Lieblingsfeinde herausgepickt und mit Schuldzuweisungen zugeschüttet. Wer aber einzelnen Parteien oder gar einzelnen Akteuren innerhalb von Parteien die gesamte Verantwortung für diesen Rechtsruck gibt, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler.
Der Punkt ist doch: die AfD wurde nicht aufgrund ihres Wahlprogrammes gewählt. Die AfD wurde gewählt, weil sich eine breite Wählerschicht nicht (mehr) mit der bestehenden Politik identifizieren kann. Das war keine logische Entscheidung, rein logisch ist es z.B. dumm, als Arbeitsloser eine radikal-marktliberale Partei zu wählen. Aber Politik ist eben nicht nur Logik, sondern hat viel mit Emotionen zu tun. Alleine eine der Grundwerte unserer Gesellschaft, unsere Freiheit, ist hochemotional, so emotional, dass massiver Freiheitsentzug zu Revolutionen führt, selbst z.T. bei denen, die rein wirtschaftlich von dem Freiheitsentzug profitieren. Bei der AfD kommt dies voll zu tragen: aus dem Gefühl, nicht vertreten zu werden, ergibt sich die rein logisch irrationale Entscheidung, es dann eben mit einer Alternative zu versuchen (der Parteiname ist ein Marketing-Schachzug allererster Güte).
Natürlich kann man jetzt Witze darüber machen, dass da Schafe den Wolf wählen, nur weil sie den Schäfer nicht mögen. Das eignet sich als Karikatur, aber ist kein guter Ratgeber für eine zukünftige Gesellschaftsentwicklung. Die Frage ist doch: wie verzweifelt, wie frustriert muss ein Mensch sein, dass er bereit ist, den Wolf zu wählen? Und was kann man dagegen tun?
Wir sind einer der reichsten Länder der Welt, und bei allen Problemen im Detail sind wir einer der Länder mit den besten Sozialsystemen der Welt. Wir sind Sehnsuchtsort für Millionen Menschen auf der Welt. Die Kernfrage ist also: wie schaffen wir es, wieder Sehnsuchtsort für uns selbst zu werden?
Ich habe darauf keine Antwort. Aber ich fände es gut, wenn wir uns damit beschäftigen würden, statt wild mit nicht validen Folgerungen aus wahllos herausgegriffenen Zahlen aufeinander rumzuprügeln und damit die Abscheu vor Politik weiter zu vergrößern.
Rechnung und Quellen
Wer Interesse daran hat, wie ich auf die Zahlen komme: hier meine kleine Berechnung.
Die Quellen sind landtag-mv.de und wahlen.mvnet.de sowie tagesschau.de. [UPDATE]Fehlerkorrektur bei absoluten Stimmenzahlen der Nichtwähler[/UPDATE]
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